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Weihnachten in der Notaufnahme

Beckie Stad


ten in der Notaufnahme

  Inhaltsangabe

  1.Arbeitsbeginn

  2.Weihnachtliche Gespräche

  3.Drei kleine Wunder

  1.Arbeitsbeginn

  Heute ist der erste Weihnachtstag. Und ich muss arbeiten, na toll.

  Verschlafen steige ich aus dem Auto aus. Es ist dunkel, eiskalt, und windig auf dem leeren Parkplatz. In der Ferne geht gerade die Sonne auf, sie bemalt den Himmel in rot-goldenen Toenen. Das passt zu diesem bitterkalten Morgen. Gestern hat es noch geregnet, und jetzt sind alle Pfuetzen zugefroren.

  Zitternd schliesse ich die Autotueren, und laufe, so schnell es trotz Glatteis moeglich ist, auf die Tuer der Notaufnahme zu.

  Ich begrüsse Melissa, die heute allein am Empfangstresen sitzt. Der Warteraum neben ihr ist vollkommen leer. “Frӧhlich Weihnachten wünsche ich dir”, lächelt sie mir freundlich zu. “Das wird heute bestimmt keine einfache Schicht, überall ist Glatteis, und wenn ich mich an das letzte Jahr erinnere…” unkt sie.

  Im letzten Jahr war ich noch in der Ausbildung- Weihnachten hatte ich eine Schulphase gehabt, und da die Schulen zu Weihnachten geschlossen haben- nun, ich will mich nicht beschweren. Meist gefällt mir meine Arbeit hier.

  “Na, dann frӧhliche Weihnachten”, denke ich, “vielleicht sind ja nicht so viele Leute auf der Strasse, es ist immerhin Weihnachten!” antworte ich ihr.

  Ich ziehe mich um, mal gucken, wen es heute morgen noch getroffen hat. Niemand ist im Umkleideraum, nur eiskalte, gähnende Leere. Zitternd ziehe ich meine Uniform an, heute eine lange Hose, bei der Kälte!

  Ich stelle mich zur morgendlichen Übergabe (nein, wir übergeben uns hier nicht, jedenfalls nur selten) an den Versammlungstisch in der Mitte der Notaufnahme. Verschlafen kommt Eva auf mich zu, und fällt mir erst einmal um den Hals. “Frӧhliche Weihnachten, meine Liebe”, sagt sie, und fällt erschӧpf auf einen Stuhl. Es sieht nicht sehr voll aus, vielleicht die Hälfte der Kabinen sind besetzt.

  2.Weihnachtliche Gespräche

  “Du wirst dich heute um meine Patienten kümmern,” erklärt sie mir. “Da ist gerade jemand Neues gekommen, Kerstin, mit ihr habe ich noch nicht gesprochen. Sie weint, seit sie hier ist.” Ob sie Schmerzen hat? “Ich kenne sie allerdings gut, sie hat eine Persӧnlichkeitsstӧrung. Und kommt oft in die Notaufnahme. Frau Schwabe, die Oberärztin, kümmert sich gerade um sie. Kerstin hat wohl eine Überdosis genommen.” “Gut, dass sie wenigstens nicht warten muss.”

  “Wie war die Nacht insgesamt?” frage ich sie. “Ziemlich ruhig. Es gab allerdings drei kleinere Autounfälle. Zum Glück ohne grosse Verletzungen. Die Patienten sind zur Beobachtung schon auf Station. Und wir hatten drei gebrochene Arme…” Gebrochene Arme kӧnnen ziemlich viel Arbeit bedeuten, denn in der Notaufnahme müssen die Knochen so schnell wie mӧglich wieder in die richtige Position gebracht werden.

  “Betreust du jemanden davon?” frage ich sie. “Herr Ricken, er wollte gestern abend nur schnell eine Zeitung kaufen, und ist ausgerutscht. Er wohnt alleine, ist über achtzig Jahre alt, und kann sich mit einem gebrochenen rechten Arm nicht selbst versorgen”, antwortet sie. “Aber Stefan hat den Arm schon gegipst, und den Speichenbruch korrigiert.” Und Eva durfte ihm natürlich helfen, da hätte ich auch gerne getan! Stefan hat es mir angetan, seit dem ersten Tag hier. “Das sind die einzigen beiden Patienten, die ich an dich weitergebe, heute morgen”, beendet sie ihre Übergabe.

  “Feierst du jetzt Weihnachten?” frage ich sie. “Ich wollte eigentlich mit meinem Freund zu meinen Eltern fahren. Ich bin jetzt sehr müde, aber das wird so spannend, dabei werde ich bestimmt nicht einschlafen!” Evas Freund ist Ladenbesitzer in der Innenstadt: er tätowiert. Und er sieht auf den ersten Blick wild aus. Evas Eltern sind sehr religiӧs, sehr warmherzig- und konservativ. Nicht ohne Grund hat sie das Kennenlernen so lange wie mӧglich herausgezӧgert. “Viel Glück wünsche ich dir!” “Zuallererst werde ich für einige Stunden schlafen. Das ist mein Weihnachtsgeschenk an mich- sonst wird mir das etwas zuviel.” Sie lacht.

  Inzwischen sind auch die anderen Krankenschwestern und Pfleger gekommen. Laura, die Oberschwester, beginnt. “Frӧhliche Weihnachten euch allen, ich bin so froh, das ihr hierseid, heute!” begrüsst sie uns. “und glaubt mir, die Patienten brauchen euch heute genau so sehr wie an jedem anderen Tag. Heute vielleicht noch ein bisschen mehr, ist doch die Notaufnahme einer der Plätze, an denen man auf jeden Fall Hilfe bekommt, nicht immer nur medizinische,” beginnt sie. “Weihnachten hier ist etwas Besonderes. Mittags dürfen alle sich in der Kantine etwas vom Weihnachtsessen holen, kostenlos heute”, fährt sie fort. Dann bittet sie die Nachtschwestern um eine kurze, offizielle Übergabe an alle: es ist gut, wenn alle im Wesentlichen wissen, wer auf Station liegt. Ich arbeite in der Notaufnahme, und wenn wirklich die Not ausbricht, müssen wir schnell den Kollegen helfen kӧnnen.

  Ich arbeite heute mit Jose zusammen, er kommt aus Brasilien, ist klein, hat lockige Haare, und spricht in einem eigenartigen Singsang. Gut kenne ich ihn nicht, aber er hat eine freundliche, feinfühlige Ausstrahlung: im richtigen Moment hat er mir schon ӧfters zugelächelt. Genau dann, wenn ich ein Lächeln gebraucht habe. Ein ruhiger, zurückhaltender Mensch ist er wohl. Und auch Laura ist mir sympathisch: sie hat eine laute Stimme, trägt eine Brille, hat lange, rote Haare, ist gross und kräftig. Und sehr hilfbereit.

  Ich begebe mich zu meinen Patienten. Zuerst zu Herrn Ricken. Er lehnt schnarchend an seinem Kopfkissen. Die Nacht war wohl anstrengend. Seine Monitore piepsen, mit einem kurzen Blick überzeuge ich mich, dass alle Messwerte im Normbereich liegen: alles sieht gut aus. Ich muss ihm gleich einige Medikamente geben, Schmerzmittel, etwas gegen Thrombosen nach einem Fall, und der Pflegedienst muss organisiert werden: Herr Ricken braucht ja nicht im Krankenhaus zu bleiben, wenn sich auch zu Hause jemand um ihn kümmern kann!

  Ich betrete Kerstins Kabine. Sie hat aufgehӧrt zu weinen. “Hallo, wie geht es Ihnen?” begüsse ich sie freundlich. “Nicht gut, ich habe schreckliche Bauchschmerzen.” Sie legt stӧhnend eine Hand auf ihren Bauch. “Sie haben Tabletten eingenommen?” frage ich sie vorsichtig. “Ja,” antwortet sie einsilbig, und dreht den Kopf zur Seite. Das fängt ja gut an.

  “Kӧnnen Sie mir sagen, wie viele Tabletten das waren, und welche?” “Das weiss ich noch. Dreissig aus dem blauen Karton, und achtzehn aus dem weissen. Mehr hatte ich nicht.” Oh je. Vorsichtig lege ich ihr eine Hand auf die Schulter, und streichele sie sanft. Sie atmet erleichtert aus. “Warum haben Sie das denn gemacht?” frage ich sie. Sie antwortet nicht. Ich lasse meine Hand noch einen Moment auf ihrer Schulter liegen. Dann werfe ich auch hier einen Blick auf die Monitore- die Herzfrequenz ist leicht erhӧht, sie hat zwei Infusionen laufen, und die Temperatur ist auch leicht erhӧht. Kommt das von der Überdosis?

  Ich blicke auf den Tisch. Frau Schwabe hat eine lange Liste an Medikamenten verschrieben, ausserdem muss ich regelmässig Kerstins Vitalzeichen kontrollieren. Um die Medikamente sollte ich mich besser sofort kümmern, bevor es Kerstin schlechter geht!

  Seufzend streiche ich ihr noch einmal über die Schulter, dann verlasse ich sie, und beginne, im Medikamentenraum diese zuzubereiten. Das dauert!

  Als ich fertig damit bin, schlafen beide Patienten. Meine weiteren beiden Betten sind noch immer leer. Ich gehe kurz zu Jose, er kümmert sich um die Patienten, die neben meinen liegen. Er kommt langsam aus einer Kabine.

  “Jose, kennst du eigentlich Kerstin?” frage ich ihn. Dann antwortet er: “Die Arme. Sie kommt regelmässig, weil sie zu viele Tabletten eingenommen hat. Ob sie sich wirklich umbringen mӧchte? Zu mir war sie immer freundlich, und ruhig,” erklärt er. “Ich kümmere mich heute um sie, und sie war sehr aufgeregt, als sie in der Nacht gekommen ist. Aber jetzt hat sie kaum gesprochen.” “Vielleicht kannst du nochmal mit ihr reden,” schlägt er vor. Le
ichter gesagt als getan, denke ich etwas mürrisch. Sie ist eine schwierige Patientin.

  Ruhig ist der Morgen bis jetzt, ich gehe zurück zu meinen Patienten. Beide schlafen immer noch. Kerstins Vitalzeichen haben sich etwas normalisiert. Ich habe etwas Zeit, also setze ich mich an den Computer, und lese etwas über Kerstins Geschichte. Sie scheint wirklich eine Borderline-Persӧnlichkeitsstӧrung zu haben. Und kommt sehr regelmässig nach einer Überdosierung in die Notaufnahme. Warum wohl?

  An der Decke glitzern die Lichterketten: vor drei Tagen haben wir es hier ein wenig geschmückt, zum Glück. Leider gibt es keine Weihnachtsmusik...

  Da kommt Laura auf mich zu, sie wird von Frau Dr Selzer begleitet. Zwei Sanitäter schieben ein Bett den Flur entlang. “Dies ist Nina Schmitz, sie hat mit Sicherheit eine Oberschenkelfraktur,” erklärt sie mit lauter Stimme. “Bringt sie in Bett Nummer sieben.” Zügig wird die neue Patienten in die Kabine geschoben. Ich folge ihnen.

  Nach einer schnellen Übergabe: Nina ist wohl auf dem Glatteis mit dem Fahrrad ausgerutscht – mit dem Fahrrad? Bei diesem Wetter? - schaue ich in die Kabine. Dort liegt eine kleine Prinzessin. Wunderniedliche blonde Locken kringeln sich unter einer gestrickten Pludermütze hervor, sie hat ein rosiges, herzfӧrmiges Gesicht, eine kleine